Studium EKIW ®

Rundbrief August 2019

Die Musik des SELBST

Margarethe Randow-Tesch

Von dem griechischen Philosophen Sokrates heißt es, dass er, als er am Ende seines Lebens im Gefängnis auf die Vollstreckung des Todesurteils wartete, im Traum eine Stimme hörte, die ihm sagte: »Treibe Musik, Sokrates«. So begann er, Verse zu machen und die Flöte zu spielen, obwohl er in beidem nicht bewandert war. Es ist, als wäre ihm gesagt worden, er solle über das logische Denken hinausgehen und sich ganz der Musik der Liebe öffnen – dem Frieden Gottes jenseits allen Denkens.

Auch der Kurs enthält hinter seiner Sprache mit ihrer brillanten Logik diese Art Musik, die uns mehr als alles anzieht, weil sie das Wiedererkennen einer Wahrheit ist, »die du aufgegeben hast und dennoch in Erinnerung hältst, die alt ist und doch neu, das Echo einer Erbschaft, die vergessen ist und dennoch alles in sich birgt, was du wirklich willst« (Ü-I.131.3:3). Das Echo dieses Erbes, das Form, Sprache und Denken weit überschreitet, ist der tiefe Frieden der Rechtgesinntheit. Sie ist das, was uns von der Musik unseres wahren Selbst in unserem jetzigen gespaltenen Zustand bleibt. Wenn wir sie hinter dem rauen Geschrei des Ego auch nur andeutungsweise hören, in welcher Form auch immer, ob in Form des Kurses oder auf ganz andere Weise, sind wir erschüttert und tief bewegt. Unser rastloses Herz wird still; die Fragen sind beantwortet; unser kleines Selbst mit seiner Verletztheit, seinen Angriffen und Forderungen an die Welt versinkt in der Bedeutungslosigkeit: »Doch das, was [das Ego] mit Schrecken hört, das hört der andere Teil als die süßeste Musik, als den Gesang, den es sich zu hören sehnte, seit das Ego erstmals in deinen Geist eintrat« (T-21.IV.7:2).

So ist es das Anliegen des Kurses, uns das Verständnis und die Mittel an die Hand zu geben, um unsere Ohren für diese wunderbare Musik in uns zu öffnen, bis alle anderen Geräusche in den Hintergrund treten. Haben wir unsere Urteile abgelegt und diese geistige Offenheit erreicht, ist unsere Aufgabe erfüllt. Der Kurs ist jedoch keine schwärmerische Erbauungsliteratur, in der unsere schwierigen Erfahrungen kleingeredet oder unter den Teppich gekehrt werden. Ganz im Gegenteil: Er erinnert uns an die Macht unseres Geistes, zu hassen oder zu lieben: dem Trennungsdenken anzuhängen oder die Ganzheit hinter allen Phänomenen zu sehen. Er ist eine solide und freundliche Ermutigung, mithilfe der nichturteilenden Stimme des Heiligen Geistes ohne Schulddrama durch den unbewussten »Kreis der Angst« (das Ego) in unserem Innern hindurchzugehen und zu üben, dem Hassgeschrei des Ego nicht zu folgen, weil es uns wehtut. Dieses Geschrei sind die kleinen und großen Urteils- und Angriffsgedanken, denen wir nachgeben und die wir rechtfertigen. Am Anfang des Textbuchs steht deshalb: »Du behältst Tausende kleiner Reste von Angst [in der ursprünglichen Durchgabe hieß es: Gemeinheit] zurück, die den Heiligen daran hindern einzutreten. Das Licht kann nicht durch die Mauern dringen, die du errichtest, um es auszusperren ... Halte Ausschau nach den Resten der Angst in deinem Geist, sonst wirst du mich nicht bitten können, es zu tun« (T-4.III.7:2,3,5).

Der Fortbestand des Ego liegt darin, dass wir sein Geschrei im Innern nicht hören und es auf diese Weise stillschweigend dulden. Wir können uns nicht gegen etwas entscheiden, was wir zum einen nicht wahrnehmen und zum anderen nicht als wertlos erkennen. Aus diesem Grund gibt es die Welt der Unterschiede und Rangordnungen, die uns vom Inneren ablenkt und unsere Aufmerksamkeit völlig in Anspruch nimmt. In der Welt sieht es so aus, als hätten einige ein besonders monströses Ego, andere ein kleines Ego und wieder andere gar keins. Was wir landläufig damit meinen, ist, dass einige Menschen ein auffälligeres Verhalten als andere zeigen. Diese Sinneswahrnehmung zu verleugnen wäre absurd, und es heißt auch nicht, jedes Verhalten über sich ergehen zu lassen. Dass scheinbar korrektes Verhalten jedoch nicht unbedingt auf Egolosigkeit hindeutet, illustriert die amüsante Geschichte von den vier Mönchen, die zusammen meditieren sollen. Dem ersten wird es langweilig und er flüstert dem zweiten zu: »Wie lange dauert es noch?« Darauf flüstert der zweite: »Ruhe! Du bist kein wahrer Mönch.« Da sagt der dritte leise zum zweiten: »Weißt du nicht, dass du über andere nicht urteilen sollst?« Nur der vierte meditiert schweigend weiter – und denkt still bei sich: »Gut, dass ich nicht so bin wie diese!« Wer kennt diese vier Positionen nicht in sich? Das Ego ist kaschiertes Trennungsdenken, das wir unterhalb der Oberfläche stärker miteinander teilen, als uns lieb ist, so wie wir auch die Melodie des Selbst miteinander teilen. Die Welt ist dazu gemacht, diese Gleichheit verborgen zu halten. Die Bedingung unseres Friedens ist, sie wieder zuzulassen. Das scheint den Konflikt zunächst zuzuspitzen, denn wir müssen uns in einem Denken üben, das nicht angreift, in einer Umgebung, die Urteile und Angriffe geradezu herauszufordern scheint. Hätten wir nicht so viel innere Hilfe, wäre es unmöglich.

In einer Lektion des Übungsbuchs gibt es eine Stelle, die den Rat an Sokrates »Treibe Musik« in seiner tiefsten Bedeutung enthüllt: »Tu einfach dies: Sei still, und lege alle Gedanken darüber, was du bist und was Gott ist, weg, alle Konzepte über die Welt, die du gelernt hast, alle Bilder, die du von dir selber hast. Mach deinen Geist von allem leer, was er für wahr oder falsch, gut oder schlecht hält, von jedem Gedanken, den er als würdig beurteilt, und allen Vorstellungen, deren er sich schämt. Halte an nichts fest« (Ü-I.189.7).

Ein solches umfassendes Loslassen markiert das Ende des Weges. Es geht an die Wurzel unseres Selbstbildes, das ein Produkt des Urteilens ist und ohne Urteile (Verurteilung) buchstäblich in sich zusammenfällt. Daher heißt es nicht von ungefähr im Handbuch für Lehrer, dass geistige Offenheit die vermutlich letzte Eigenschaft ist, die jemand auf seinem Weg zur Wahrheit erwirbt (H.4.X).

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